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Gasshuku in Wien

Die Reise nach Wien mit dem Auto war nicht gerade leicht. Neun Stunden im Auto sitzen kann schon zu einer Plage werden, aber das was uns in Wien erwartete, entlohnte uns eigentlich für alles.

Nachdem Marco und ich in Wien angekommen waren, fuhren wir zunächst zu meiner Tante in den Garten, die uns auch gleich zum Abendessen einlud. Danach machten wir uns auf den Weg zum Budocenter. Dort angekommen sahen wir den kleinen Gymnastikraum, der unsere Übernachtungsmöglichkeit darstellen sollte, bereits am Abend voll belegt - und es sollten noch mehr Leute kommen. Da wir wenig Lust verspürten, uns in der Mitte des Raumes auszubreiten, rief ich kurz entschlossen meine Tante an und so kam es denn auch, daß wir bei ihr im Garten unser Zelt aufschlugen und dort nächtigten. Dies hatte im übrigen noch einen weiteren Vorteil: Der Garten befand sich unweit der alten Donau und so lag es auf der Hand, daß wir jeden morgens und abends die Gelegenheit nutzten, um uns in der Donau zu erfrischen.

Das Sommertrainingslager in Wien findet traditionell in der 1. Juliwoche statt. Sensei Fujinaga konnte diesmal jedoch nicht dabei sein, da er sehr schwer erkrankt und nach Japan zurückgekehrt war. So brachte Sensei Tanaka (7. Dan) einen anderen Meister mit nach Wien: Sensei Watanabe (6. Dan) - seines Zeichens Chiefinstructor für die Region Fuji in Japan.

Die rund 160 Lehrgangsteilnehmer kamen von überall her: Aus Österreich, der Schweiz, Deutschland, Ungarn ... Unter ihnen waren allein schon etwas mehr als 30 Danträger und bestimmt noch einmal ebensoviele Braungurte, so daß diese Gruppe allein schon fast die Hälfte aller Anwesenden ausmachte. Weiß-, Gelb- und Orangegurte waren nur in sehr geringen Umfang vertreten.

Gleich zu Beginn des Lehrgangs wurde durch Sensei Tanaka ein Brief von Sensei Fujinaga an alle Lehrgangsteilnehmer verlesen, in denen er mitteilte, daß er mit einer schweren Krankheit zu kämpfen habe, bei der es um Leben und Tod gehe. Er wünschte allen Lehrgangsteilnehmern für die bevorstehende Woche alles Gute und drückte zugleich die Hoffnung aus, daß es ihm vergönnt sein möge, noch einmal alle wiederzusehen.

Die Organisatoren dieses Lehrgangs schrieben Sensei Fujinaga ihrerseits ebenfalls einen Brief, in dem sie ihm eine gute Genesung wünschten. Dieser Brief wurde von allen Lehrgangsteilnehmern unterzeichnet.



Hier nun einige kurze Erlebnisse aus dem Trainingsalltag in Wien:


Wenn man bisher der Meinung war, den Begriff "hartes" oder "anstrengendes" Training verstanden zu haben, wurde man hier rasch eines Besseren belehrt. Nach der Erwärmung ein paar lockere Mae Geri - fast wie gewohnt - aber dann: Sensei Tanaka zählt zehn Schwarzgurte ab, die die Aufgabe erhalten, ihrerseits jeweils laut bis zehn zu zählen - so kommen dann schon mal schnell 100 Mae Geri zusammen. Insgesamt wurden beispielsweise in der ersten Trainingseinheit dieses Gasshuku etwas mehr als eintausend Fußtechniken absolviert.

Um einem Muskelkater vorzubeugen, hieß es für uns nach dem Training immer: Die Muskeln mit einer gründlichen Massage lockern und durchkneten. (Das hat übrigens auch ganz gut funktioniert.)

In der Regel gestaltete sich das Vormittagstraining immer etwas anstrengender. Es wurde zumeist in zwei Hälften geteilt. Zunächst konnten sich alle kräftig verausgaben, bevor dann in der zweiten Hälfte (nach einer kurzen fünf- bis zehnminütigen Pause) die Umsetzung des zuvor Geübten am Partner erfolgte - natürlich etwas ruhiger. Auch am Nachmittag ging es zwar etwas ruhiger zu - aber nichtsdestotrotz mußte man sich auch hier ganz schön anstrengen, um mitzuhalten.

In einem Vormittagstraining beispielsweise ließ Sensei Tanaka sechs Schwarzgurte vorn antreten und machte diesen zur Aufgabe die nun folgenden unablässigen Angriffe der anderen die vor ihnen standen abzuwehren und zu kontern. Dies währte so einige Minuten und den Schwarzgurten fiel es zusehends schwerer, die Angriffe abzuwehren. Selbst Sensei Watanabe wandte sich an Sensei Tanaka, ob er denn nicht langsam diese Übung abbrechen wolle - aber dieser winkte nur ab. Zum Abschluß gab es natürlich für die vorn Stehenden einen kräftigen Beifall, denn sich da zu halten war gewiß keine leichte Aufgabe gewesen.

Am lustigsten war für viele sicherlich das Mittwochtraining. An diesem Tag kam Sensei Tanaka lustig hüpfend in die Halle und übernahm dann selbst die Erwärmung, wobei er verschiedene Dehnübungen ausführen ließ und diese zusammen mit Sensei Watanabe demonstrierte. Beide Meister ahmten dabei Anfänger bei dehnübungen nach, indem sie ihre Mienen verzogen und vor Schmerzen stöhnten, was natürlich die Anwesenden zu einem unablässigen Gelächter herausforderte. Nachdem die Erwärmung jedoch vorüber war, sagte Sensei Tanaka nur kurz, daß in Anbetracht der Tatsache, daß an diesem Tag nur eine Trainingseinheit stattfinden sollte, diese etwas anstrengender sein werde und man sich die Kräfte entsprechend einteilen müsse, da es heute auch keine Pause geben werde. Seinen Worten ließ er dann auch sogleich Taten folgen und dies führte dazu, daß in dieser Trainingseinheit etwas mehr als eintausend Kombinationen (!) ausgeführt wurden.

Am Freitag dann, zum Schluß der letzten Trainingseinheit, hatte Sensei Tanaka noch etwas Besonderes auf Lager. Zunächst zeigte er ohne die geringste Mühe was er sehen wollte: runter in die Hocke - im Entengang locker bis in die Mitte der Halle und dann den Rest im Entengang "sprinten" - drüben angekommen umdrehen und 10 Hidori. Dies machten wir einmal hin und zurück und wir dachten, daß dies endlich das Ende sei, da die Oberschenkel nämlich schon wahnsinnig schmerzten - aber weit gefehlt: Jetzt ging es ja erst richtig los. Sensei Tanaka lächelte bloß, wies mit seinem Finger auf die gegenüberliegende Seite und sagte "Hajime!" Und wies mit seinem Finger auf die gegenüberliegende Seite und sagte "Hajime!" und schon krochen, wälzten sich die ersten, die sich nicht mehr auf den Füßen halten konnten zur anderen Seite. Jetzt hieß es aber: Alle machen bei den Hidori mit - wenn einer aussetzt, beginnt die ganze Gruppe noch einmal von vorn. Dies wiederholte sich noch zweimal. Bevor das "Yame!" des Meisters die Anwesenden erleichterte. Kaum das man stand, blitzte jedoch ein verschmitztes Lächeln über das Gesicht des Meisters und er sagte "Yoi! - Hidari Gedan Barai - Kamae-te!" Alle blickten ungläubig zu ihm hinüber aber er nahm nur wortlos die geforderte Position ein. Dann das nächste Kommando, was einige sicherlich schon zur Verzweiflung trieb: "Mae Geri Jodan!". Die meisten glaubten sicherlich, ihr Ende sei gekommen, aber ich staunte selbst nicht schlecht wie wunderbar leicht sich mit einem Mal Mae Geri treten ließ. - Nun war der Lehrgang auch schon fast zu Ende.

Sensei Tanaka gab den Teilnehmern zum Abschluß noch ein paar gut gemeinte Worte und Ratschläge mit auf den Weg. Bevor er die Versammelten aufforderte, zusammen mit ihm in die Hände zu klatschen, damit Sensei Fujinaga wieder gesund werde. Minutenlanges, rhythmisches Klatschen füllte sodann den Raum. Ebenso dann der Beifall für die beiden Meister, als sie das Dojo verließen.

Neben dem Training haben wir natürlich auch noch eine ganze Menge von Wien gesehen. So besichtigten wir an den freien Nachmittagen das Schloß Schönbrunn mit seinem wunderschönen Parkanlagen, den dort befindlichen Tiergarten, den weltberühmten Stephansdom, die historischen Stätten am Kahlenberg und Leopoldsberg, von wo aus Wien im 17. Jahrhundert vor der drohenden türkischen Eroberung bewahrt wurde, das Kloster in Klosterneuburg mit seiner wunderschönen Kirche und natürlich waren wir auch auf dem Prater - dem Plänterwald Wiens, wo wir es uns so richtig wohl sein ließen.

Leider, muß man sagen, war die schöne Zeit viel zu schnell vorüber. Jedoch bin ich sicher, daß dies nicht das letzte Sommerlager in Wien gewesen sein wird, daß ich besucht habe, denn die dortige Atmosphäre, das Miteinander beim Training ist einfach wunderbar gewesen.

Ralph P. Görlach

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